Gog und Magog IV

Eine Bemerkung des Hieronymus in seinem Brief Nr. 77 sollte sich für unser Thema als folgeschwer erweisen. Dort kam der Kirchenvater – wohl im Jahr 399 – auf die schwierige politische Lage zur Zeit der Völkerwanderung zu sprechen – und er machte eine rätselhafte geografische Anspielung. Ecce subito discurrentibus nuntiis oriens totus intremuit, ab ultima Maeotide inter glacialem Tanain et Massagetarum inmanes populos, ubi Caucasi rupibus feras gentes Alexandri claustra cohibent, erupisse Hunorum examina, quae pernicibus equis huc illucque uolitantia caedis pariter ac terroris cuncta conplerent. aberat tunc Romanus exercitus et bellis ciuilibus in Italia tenebatur. (Brief 77,8 an Oceanus, CSEL 55, 45 MÜ)

Siehe, plötzlich erbebte der ganze Orient durch hin und herlaufende Boten, dass die Scharen der Hunnen von der äußersten Maeotis 1 zwischen dem eisigen Tanais 2 und den riesigen Völkern der Massageten 3 ausgebrochen seien, wo durch die Felswände des Kaukasus die eisernen Bollwerke Alexanders die Völker einschließen. Sie würden auf raschen Pferden hierhin und dorthin dahinfliegend alles zugleich mit Blutvergießen und Terror erfüllen. Damals eben war das römische Heer abwesend und wurde durch Bürgerkriege in Italien festgehalten. (MÜ: Brief 77,8 an Oceanus, CSEL 55, 45)

Die eisernen Bollwerke Alexanders

Was meint Hieronymus mit den eisernen Bollwerken Alexanders – und was hat das alles mit Gog und Magog zu tun? Hieronymus setzte offensichtlich voraus, dass sein Briefpartner wusste, wovon er sprach. Gut 900 Jahre später gab der englische Franziskaner Roger Bacon († um 1293) erschöpfend Auskunft zu diesem Thema, und die sieht so aus:

Post illos ad orientem sunt portae Caspiae super mare Caspium, quas Alexander magnus construxit in concursu montium. Nam cum voluit expugnare gentem aquilonarem, non potuit propter illius gentis ferocitatem et multitudinem. Et, ut dicit Ethicus, stetit per annum unum et menses tres, ut defenderet se ab eis, et ingemuit quod talis gens pessima fuisset in partibus aquilonis, et exclamavit ad Deum ut apponeret remedium, ne mundus destrueretur per eos. Sed licet non fuit dignus exaudiri, tamen Deus sua bonitate et propter salutem generis humani jussit fieri terrae motum maximum, et montes per stadium distantes conjuncti sunt usque ad latitudinem unius portae.

Nach diesen 4 kommen im Osten die kaspischen Tore über dem Kaspischen Meer, die Alexander der Große im Verlauf der Berge errichtete. Denn als er ein nördliches Volk unterwerfen wollte, vermochte er es wegen der Wildheit und Menge dieses Volkes nicht. Und, wie Ethicus sagt, steckte er ein Jahr und drei Monate lang dabei fest, sich vor ihnen zu schützen. Da stöhnte er auf, weil ein derartig böses Volk in den nördlichen Gegenden war und er rief laut zu Gott, er möge Hilfe leisten, damit nicht der Erdkreis von ihnen zugrunde gerichtet werde. Aber obwohl er nicht würdig war, erhört zu werden, ließ Gott trotzdem in seiner Güte und zum Heil des Menschengeschlechts, ein gewaltiges Erdbeben geschehen, und 200 Meter voneinander entfernte Berge bis zur Breite eines Tores zusammenrücken.

Et Alexander tunc fecit fundi columnas aereas mirae magnitudinis, et erexit portas et linivit eas bitumine quod nec igne, nec aqua, nec ferro dissolvi posset, quod adquisivit ex insulis maris, nec potuerunt dirui aliquo modo nisi per terrae motum: et jam dirutae sunt. Nam frater Willielmus transivit per medium earum cum Tartaris. Et est ibi civitas quae vocatur porta ferrea Alexandri: a qua versus orientem incipit Hyrcania super Hyrcanium mare, quod est Caspium, ut superius dictum est. Nam Hyrcania jacet super latus meridionale illius maris et extenditur usque ad terminos Indiae, a cujus latere meridionali sunt Media et Parthia, sicut prius fuit annotatum. Hae vero portae non sunt Caucasiae sed Caspiae, ut dicit Plinius, nec Caucasiae sunt Caspiae. Nam Caucasiae distant a Caspiis per ducenta milliaria versus mare Ponticum; et a mari Pontico distant per clxxx milliaria circa partes Hiberiae et Georgiae. Et ista loca cum montibus interjacentibus vocantur claustra Alexandri, per quae cohibuit gentes aquilonares ne irruerunt terras meridianas devastando eas. Nam Alexander multa bella gessit cum eis, ut refert Ethicus, et aliquando infra tres dies ceciderunt ex utraque parte decies centena millia hominum. Alexander tamen magis arte et ingenio vicit quam armorum potestate. Et cum fuerunt excitati sicut ursi de cavernis suis, non potuit eos reprimere per violentiam, sed Deus juvit per terrae motum et clausuras montium. Nunc autem ruptae sunt, et diu est quod fractae sunt sive terrae motu sive vetustate.

Damals ließ Alexander erzene Säulen von erstaunlicher Größe gießen, und errichtete die Tore und bestrich sie mit einem Pech, das weder Feuer noch Wasser noch Eisen auflösen kann; das hatte er von Meeresinseln beschaffen lassen, damit sie nicht auf irgendeine Weise eingerissen werden konnten, nur durch ein Erdbeben. Und jetzt sind sie zerstört. Denn Frater Willielmus 5 ging mit den Tartaren mitten durch ihre (noch übrige) Hälfte. Dort gibt es eine Stadt, die „Eisernes Alexandertor“ heißt. Von ihr aus Richtung Osten beginnt Hyrkanien, oberhalb des hyrkanischen Meeres, das das Kaspische ist, wie weiter oben gesagt wurde. Denn Hyrkanien liegt an der südlichen Seite dieses Meeres und reicht bis an die Grenzen Indiens; an seiner Südseite sind Medien und Parthien, wie bereits früher erwähnt wurde. Aber diese Tore sind keine kaukasischen, sondern kaspische, wie Plinius sagt, noch sind Kaukasier Kaspier. Denn die Kaukasier sind von den Kaspiern 200 Meilen Richtung pontisches Meer 6 entfernt; und vom pontischen Meer sind die Gebiete von Hiberia und Georgien ungefähr 153 Meilen entfernt. Und dieser Ort mit den dazwischenliegenden Bergen wird Alexanders Bollwerke genannt, durch das er die nördlichen Völker davon abhielt, in die südlichen Länder einzudringen, um sie zu verwüsten. Denn Alexander führte viele Kriege mit ihnen, wie Ethicus überliefert, und einmal fielen auf beiden Seiten in weniger als drei Tagen zehnmal einhunderttausend Männer. Alexander siegte trotzdem mehr durch Geschicklichkeit und natürliche Begabung als durch Waffengewalt. Und als sie herausgejagt wurden wie Bären aus ihren Höhlen, konnte er sie nicht mit Gewalt zurückdrängen, sondern Gott half durch ein Erdbeben und das Verschließen der Berge. Jetzt sind sie aber geborsten – und schon lange ist es her, dass sie zerbrochen sind – sei es durch ein Erdbeben, sei es durch das Alter.

Et considerandum est diligenter de locis istis. Nam Gog et Magog, de quibus Ezechiel prophetavit et Apocalypsis, in his locis sunt inclusi, secundum quod dicit Hieronymus secundo libro super Ezechielem. Gog Scythica gens trans Caucasum et Maeotim et Caspium mare ad Indiam usque tenduntur; et a principe Gog omnes qui subditi sunt Magog appellantur et Judaei similiter, quos Orosius et alii sancti referunt exituros. Atque sicut Ethicus scribit, Alexander inclusit viginti duo regna de stirpe Gog et Magog, exitura in diebus Antichristi, qui mundum primo vastabunt et deinde obviabunt Antichristo, et vocabunt eum Deum Deorum, sicut et beatus Hieronymus confirmat. O quam necessarium est ecclesiae Dei, ut proelati et viri catholici haec loca considerent, non solum propter conversionem gentium in illis locis, et consolationem Christianorum captivorum ibidem, sed propter persecutionem Antichristi, ut sciatur unde venturus sit, et quando, per hanc considerationem et alias multas.

Über diese Gegend muss man gewissenhaft nachdenken. Denn Gog und Magog, über die Ezechiel und die Offenbarung prophezeit haben, sind in dieser Gegend eingeschlossen, nachdem was Hieronymus in seinem zweiten Buch über Ezechiel sagt. Gog – das skytische Volk – jenseits des Kaukasus, Maeotien und das kaspische Meer erstrecken sich ohne Unterbrechung bis nach Indien, und nach dem Fürsten werden alle, die sich Gog unterworfen haben, Magog genannt und auf gleiche Weise die Judäer, die – nach den Berichten von Orosius und anderen Heiligen – umkommen werden. Und wie Ethicus schreibt: Alexander schloss zweiundzwanzig Königreiche vom Stamm Gog und Magog ein, die in den Tagen des Antichristen umkommen werden, die zuerst den Erdkreis verwüsten und danach dem Antichrist entgegengehen und ihn Gott der Götter nennen werden, wie auch der heilige Hieronymus bestätigt. O wie höchst notwendig ist es für die Kirche Gottes, dass kampfesfähige und katholische Männer diese Gegend besiedeln, nicht allein wegen der Bekehrung der Heiden in jener Gegend, auch nicht zum Trost der christlichen Gefangenen ebendort, sondern wegen der eifrigen Verfolgung des Antichristen, damit man durch diese und viele andere Überlegungen weiss, woher er kommen wird und wann.

(Roger Bacon, Opus majus IV, IV, 16, I, 364-365; MÜ)

Fortsetzung

 

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  1. Das Asowsche Meer, neben der Halbinsel Krim gelegen
  2. Das ist der Don.
  3. Ein asiatischer Stamm beim Kaspischen Meer.
  4. Gemeint sind die christlichen Völker zwischen Armenien und dem kaspischen Meer, die Bacon im vorherigen Abschnitt genannt hat.
  5. Wilhelm von Rubruk, ein Ordensbruder Bacons; seine Wegbeschreibung, das Itinerarium, ist erhalten geblieben; er reiste 1252 im Auftrag Ludwig IX. von Frankreich zum Großkahn der Mongolen.
  6. Das ist das Schwarze Meer.

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