Seine Lebenszeit soll 120 Jahre betragen

So übersetzten mehrere maßgebliche deutsche Übersetzungen den Abschluss von Gen 6,3:

Luther 2017 Zürcher Revidierte EÜ
Da sprach der HERR: Da sprach der HERR: Da sprach der HERR:
Mein Geist soll nicht Mein Geist soll nicht Mein Geist soll nicht
immerdar im Menschen auf immer im Menschen für immer im Menschen
walten, denn bleiben, weil bleiben, weil
er ist Fleisch. auch er Fleisch ist. er eben Fleisch ist;
Ich will ihm als Seine Lebenszeit soll daher soll seine
Lebenszeit geben hundertzwanzig Lebenszeit hundert-
hundertzwanzig Jahre. Jahre sein. zwanzig Jahre betragen.

Sind diese Übersetzungen richtig? Oder vom Sinn her die einzig möglichen? Ich meine: Nein und nein.

Der Text von Gen 6,3

Der masoretische Text liest sich so:

וַיֹּאמֶר יְהוָה לֹֽא־יָדוֹן רוּחִי בָֽאָדָם לְעֹלָם בְּשַׁגַּם הוּא בָשָׂר וְהָיוּ יָמָיו מֵאָה וְעֶשְׂרִים שָׁנָֽה׃

Wörtlich übersetzt: Da sprach der HERR: nicht wird/soll jadon mein Geist in dem Menschen für immer/auf ewig, beschagam er ist Fleisch, und es sollen seine Tage hundertundzwanzig Jahre sein. Die beiden nicht übersetzten Begriffe sind in ihrer Bedeutung umstritten, für das Verständnis des Verses aber wichtig.

Die oben präsentierten deutschen Übersetzungen folgen im Wesentlichen der Septuaginta, die den Vers so übertragen hat:

καὶ εἶπεν κύριος ὁ θεός Οὐ μὴ καταμείνῃ τὸ πνεῦμά μου ἐν τοῖς ἀνθρώποις τούτοις εἰς τὸν αἰῶνα διὰ τὸ εἶναι αὐτοὺς σάρκας, ἔσονται δὲ αἱ ἡμέραι αὐτῶν ἑκατὸν εἴκοσι ἔτη.

Und der HERR, Gott, sprach: Mein Geist soll gewiß nicht auf ewig in diesen Menschen verbleiben, dadurch dass sie Fleisch sind, ihre Tage aber werden hundertzwanzig Jahre sein. (MÜ)

Die LXX übersetzt also jadon mit καταμένωverbleiben, verweilen und beschagam mit dadurch, dass. Beide Übersetzungen will ich hier von Spezialisten des Hebräischen überprüfen lassen.

Raschi (ca. 1040-1105)

Rabbi Schelomo Jitzchaqi (Akronym: Raschi) kommentiert unseren Vers wie folgt:

לא ידון רוחי באדם. לא יתרעם ויריב רוחי עלי בשביל האדם

Lo jadon ruchi ba adam. [Diese Aussager des HERRN bedeutet]: Mein Geist soll nicht unzufrieden sein und sich mit sich selbst streiten um des Menschen willen.

Kommentar: Raschi gibt den Ausdruck jadon durch die Verben רעם (im Hitpa.) und רוב (im Hif.) wieder: unzufrieden sein, streiten. Das ist ziemlich weit weg von der Übersetzung der LXX. Die Präposition ב vor dem Menschen ist demnach nicht mit „in dem Menschen“ sondern als „um des Menschen willen“ zu verstehen.

לעלם. לארך ימים; הנה רוחי נדון בקרבי אם להשחית ואם לרחם, לא יהיה מדון זה ברוחי לעולם, כלומר לארך ימים׃

Für immer. [Das bedeutet:] für die Länge der Tage. Siehe, mein Geist berät in seinem Inneren, ob er [den Menschen] vernichten oder ob er [dem Menschen] barmherzig sein soll. Dieser Streit soll nicht für ewig in meinem Geist sein, das heißt: für die Länge der Tage.

Kommentar: Der innere Konflikt Gottes geht also um die Frage, ob die Menschen zur Zeit der Sinflut bestraft werden sollen oder nicht.

בשגם הוא בשר: כמו בשגם כלומר בשביל שגם זאת בו שהוא בשר ואף על פי כן אינו נכנע לפני ומה אם יהיה אש או דבר קשה כיוצא בו עד שקמתי דבורה כמו שקמתי וכן שאתה מדבר עמי כמו שאתה אף בשגם כמו בשגם׃

Übersetzung: Dadurch dass er (בְּשַׁגָּם) auch Fleisch ist (Gen 6,3), wie בְּשֶׁגַּם1, um damit zu sagen: weil auch das in ihm ist, dass er Fleisch ist und trotzdem ist er keiner, der sich vor mit demütigt und was wäre [erst], wenn er [aus] Feuer oder eine[r] beständige[n] Substanz 2 wäre? Auf gleiche Weise [ist der Ausdruck zu verstehen] in [Ri 5,7]: bis dass ich, Deborah, aufstand (שַׁקַּמְתִּי), wie שֶׁקַּמְתִּי und so ist [es auch in dem Vers Ri 6,17]: dass du (שָׁאַתָּה) mit mir sprichst wie שֶׁאַתָּה. So ist auch בְּשַׁגָּם wie בְּשֶׁגַּם [zu verstehen].

Kommentar: Raschi liest den Ausdruck beschagam als Kombination aus zwei Präfixen, nämlich ב und ש als Kurzform von אשר sowie dem Wort גם – das „auch“ bedeutet. Er kann dabei auf zwei Bibelstellen verweisen, die das שֶׁ anstelle von Segol mit Patach oder Kamez vokalisieren, wie also an unserer Stelle.

Neuzeitliche Autoren haben versucht, die Form als eine Konstruktion von ב mit einem Infinitiv plus Suffix von שׁגג – sündigen, irren – zu übersetzen: „in ihrem Sündigen“, „in ihrem Irren“; eine Übersetzung, die Gesenius-Kautzsch 28 § 67p für richtig hält, wobei die Version Raschis (ohne Nennung seines Namens) als „gut bezeugt ist jedoch auch“ angeführt wird.

Gesenius Kautzsch 28 § 67p zu Gen 6,3
Gesenius Kautzsch 28 § 67p zu Gen 6,3

והיו ימיו וגו‘. עד ק“ך שנה אאריך להם אפי, ואם לא ישובו אביא עליהם מבול. ואם תאמר משנולד יפת עד המבול אינו אלא מאה שנה, אין מקדם ומאחר בתורה (פסחים ו‘) – כבר היתה הגזרה גזורה עשרים שנה קדם שהוליד נח תולדות, וכן מצינו בסדר עולם. יש מדרשי אגדה רבים בלא ידון, אבל זה הוא צחצוח פשוטו׃

Und seine Tage sollen sein usw. [Das bedeutet:] Bis zu hundertzwanzig Jahren will ich meinen Zorn auf sie aufschieben, und wenn sie nicht umkehren, werde ich über sie eine Flut kommen lassen. Und wenn du sagst, dass es von der Geburt Japhets bis zu der Flut nur hundert Jahre waren3, [dann antworte ich darauf:] In der Tora gibt es kein früher oder später (bPess 6b). Schon zwanzig Jahre war es [her], dass das Urteil gefällt wurde, ehe Noach Nachkommen geboren wurden, und so finden wir [diese Erklärung] im Seder Olam4. Es gibt viele haggadische Midraschim über [den Ausdruck] lo jadon, aber aber das ist seine klar herausgearbeitete [w. polierte] wörtliche Bedeutung.

Kommentar: Dass die Deutung Raschis sehr alt ist, bezeugt unter anderem Hieronymus (gestorben 420) in seinem Buch über die Hebräischen Untersuchungen zur Genesis. Über ihn kam diese Auslegungstradition in das lateinische Chistentum, das aber auch ausdrücklich auf Raschi zurückgreifen konnte.

Nikolaus von Lyra (ca. 1270-1349)

In seiner Postilla zu Glossa Ordinaria finden wir eine ausdrückliche Berufung auf Rabbi Salomo, wie der Franziskaner Raschi nennt.

Nikolaus von Lyra zitiert Raschi zu Gen 6,3
Nikolaus von Lyra zitiert Raschi zu Gen 6,3: Aliter exponit Ra(bbi) Sa(lomo) dicens: Anders erklärt das Rabbi Salomo, wenn er sagt …

Quia caro est. id est habens pronitatem ad peccandum ex carne animam aggravante, propter quod est magis sibi parcendum, puniendo eum p[u]gna temporali, & non aeterna. Aliter exponit Ra[bbi] Sa[lomo] dicens, quod haec est veritas literae. Non disceptabit spiritus meus in homine i[n] aeternu[m], ac si diceret Deus, usq[e]; non tenui sente[n]tia[m] de deletio[n]e g[e]neris humani per diluviu[m], in suspenso per modum cuisda[m] disceptationis, sed ex nunc proferam sententiam. Quia caro est. id est, nimis implicatus peccatis carnalib[us]. veruntamen ad declarationem iustitiae mea differam executionem sententia[e] meae, ut habeant locum poenitentiae, & hoc est quod subditur.

Weil er Fleisch ist. Das bedeutet, dass die durch das Fleisch beschwerte Seele eine Neigung zum Sündigen hat, weshalb sie um so mehr zu verschonen ist, und er [= der Mensch] mit einem zeitlichen, nicht eine ewigen Kampf bestraft werden muss. Anders erklärt das Rabbi Salomo, der sagt, dass dies die buchstäbliche Bedeutung ist. Mein Geist wird nicht in Ewigkeit um den Menschen streiten, gerade so, wie wenn Gott gesagt hätte: in einem fort [um den Menschen streiten. Gott meint damit:] Ich habe das Urteil über die Vernichtung des Menschengeschlechts durch die Flut nicht zurückgehalten, in der Schwebe gehalten durch eine gewisse Art von Verhandlung, sondern ich will das Urteil augenblicklich verkündigen. Weil er Fleisch ist. Das bedeutet: nachdem er all zu sehr in fleischliche Sünden verstrickt wurde. Aber ich will doch zur Offenbarung meiner Gerechtigkeit die Vollstreckung meines Urteils aufschieben, damit sie einen Zeitraum zur Reue haben sollen, und das ist das, was [in den weiteren Versen] folgt5.

Ibn Ezra (1089-ca.1165)

Rabbi Avraham ben Meïr ibn Ezra kommentiert den Vers folgendermaßen:

לא ידון רוחי יש אומ׳ שהו׳ כמו וישב חרבו אל נדנה כי הגוף לרוח כנדן והעד איתכרית רוחי רק יהיה ידון שורש אח׳ כמו אם יעלה לשמים שיאו שהוא מנחי העין וכמוהו נשא ורבים אחרים ויש אומרים שמשקלו כמו וישב העפר והיא מגזרת דין כי הרוח דיין בגוף׃

Nicht soll walten [jadon] mein Geist. Jemand hat gesagt, dass er [der Ausdruck jadon] so ist wie und er steckte sein Schwert zurück in seine Scheide (1 Chr 21,27), denn der Körper ist für den Geist wie eine [Schwert]Scheide (nadan). Und der Beweis [für diese Aussage] ist [der Vers] Bekümmert wurde mein Geist [ mir, Daniel, mitten in seiner Scheide (nidneh) ] (Dan 7,15).6 Nur hat jadon eine andere Wortwurzel als er [= der Ausdruck nadan ].7 [Ein weiteres Beispiel:] Wenn bis in den Himmel steigt sein Stolz (Hiob 20,6) 8, dass [hier in der Form שִׂיא] der zweite Wurzelkonsonant abgelegt wird 9 und er gleich ist wie נשא. Und [da] sind viele andere [solche Beispiele]. Und es gibt welche, die sagen, dass seine Wortstruktur gleich ist wie bei und der Staub kehrt zurück (Koh 12,7) 10 Das ist die Verbgruppe von din (=richten), denn der Geist richtet den Körper. 11

בשגם. השי“ן כמו שככה ויהיה טעמו לא יעמד רוחי שמאתו היתה וכן קהלת אמר והרוח תשוב אל האלהים אשר נתנה רק רוח האדם לבדו בעבור זה החמס ועוד בעבור שהאדם בשר והוא יגיע עד עת. ויחסר כאשר ינצח העשוי לעושה׃

Beschagam. Das Schin ist wie bei Schækacha. 12 Und sein Sinn [= der Sinn des Verses] soll sein: Mein Geist soll nicht bleiben, denn er war von ihm (= von Gott) und so sagt Kohelet: Und der Geist wird zu Gott zurückkehren, der ihn gegeben hat (Koh 12,7). [Damit mein Kohelet] nur den Geist des Menschen allein. Wegen diesem, der Gewalt und so weiter, weil der Mensch [eben] Fleisch ist, und er gelangt bis zu einer Zeit und verliert, während sich durchsetzt, was zu tun er geschaffen ist. 13

Kommentar: Durch einen Vergleich mit grammatikalischen Konstruktionen an anderen Bibelstellen kommt Ibn Ezra zum Schluß, dass jadon sich von der Wurzel din herleitet. Bei beschagam schließt er ebenfalls das שׁ von der Wortwurzel aus – hier sind die hebräischen Ausleger konsequent einer Meinung.

Radaq (1160-1235)

Rabbi David Qimchi aus Narbonne wurde durch sein Sefer Mikhlol („Buch der Gesamtheit“) berühmt, einer „Summe des grammatischen Wissens zur hebräischen Sprache“14. Dieses Buch wurde ins Lateinische übersetzt und von christlichen Hebraisten verwendet. Ein wichtiger Teil dieses Buches war das Sefer ha-Schoraschim, das Buch von den hebräischen Wortwurzeln. Hier leitet er jadon von der Wurzel dun/din her:

Die Wortwurzel dun/din bei Radaq
Die Wortwurzel dun/din bei Radaq

Zu den sonstigen Fragen des Verses Gen 6,3 führt er aus:

בשגם, השין פתוחה כמו „שקמתי דבורה“ (שופטים ה‘) ופירוש כאשר גם הוא בשר, כלומר למה לא ידון רוחי באדם לעולם, לפי שגם הוא בשר כמו הבהמות, שאע׳׳פ שיש בו רוח עליונה, הנה גם הוא בשר והבשר מושך הרוח אל תאותיו לפיכך אאריך לאדם הזה ק׳׳כ שנה אם ישוב, טוב, אקיים אותם בעולם, ואם לאו אכלה אותם מן העולם, זה פירושו. ימיו, הימים שאאריך לו, וטעם מאה ועשרים לא ידענו אלא כך היה רצון הבורא

beschagam, das Schin ist mit Patach punktiert wie [in dem Vers] dass ich, Deborah, aufstand (Ri 5,7). Und das bedeutet wenn er auch Fleisch ist, das meint, warum mein Geist nicht für immer im Menschen bleiben wird (Gen 6,3), weil er auch Fleisch ist wie das Vieh (vgl. Koh 3,19+21). Das obwohl es in ihm einen himmlischen/höheren Geist gibt. Siehe, er ist auch Fleisch und das Fleisch zieht den Geist an zu den Begierden. Folglich werde ich für diesen Menschen [sein Leben um] 120 Jahre verlängern, wenn er umkehren wird, gut, [dann] werde ich sie auf der Erde bestätigen. Und wenn nicht – dann werde ich sie von der Erde vertilgen. Das ist seine [=des Verses] Bedeutung. Seine Tage (Gen 6,3), [das sind] die Tage, die ich ihm [sein Leben] verlängern werde. Und den Grund/die Bedeutung für/von 120 Jahre/n kennen wir nicht, außer dass es so der Wille des Schöpfers war.

Kommentar: Radaq wiederholt also nur, was die Gelehrten vor ihm schon gesagt haben.

Ramban (1194-1270)

Der katalonische Arzt und Gelehrte Rabbi Mosche ben Nachman kritisiert in seinem Kommentar seine Vorgänger:

בשגם הוא בשר כמו בשגם בסגול ופירש רש׳׳י בשביל שגם זאת בו שהוא בשר ואף על פי כן איננו נכנע מלפני ומה אם יהיה אש או דבר קשה ואין בפירוש הזה טעם או ריח ורבי אברהם פירש כי יאמר לא יעמוד רוחי באדם לעולם בעבור החמס הזה ועוד בעבור שהאדם בשר ויגיע עד עת ויחסר והנה הוא כמו גם בשהוא בשר ומה צורך לטענה הזאת וידוע כי בשר המה ונגזר עליהם המיתה כי עפר אתה ואל עפר תשוב (לעיל ג יט) והנכון בעיני כי יאמר לא יעמוד רוחי באדם לעולם בעבור שגם האדם הוא בשר ככל בשר הרומש על הארץ בעוף ובבהמה ובחיה ואיננו ראוי להיות רוח אלהים בקרבו והענין לומר כי האלהים עשה את האדם ישר להיותו כמלאכי השרת בנפש שנתן בו והנה נמשך אחרי הבשר ובתאוות הגופניות נמשל כבהמות נדמו ולכן לא ידון עוד רוח אלהים בקרבו כי הוא גופני לא אלהי אבל יאריך להם אם ישובו והנה זה כטעם ויזכור כי בשר המה רוח הולך ולא ישוב (תהלים עח לט)

Indem dass er auch (בְּשַׁגָּם) Fleisch ist (Gen 6,3). [Das ist] wie בְּשֶׁגַּם mit Segol [zu lesen] und Raschi erklärt, »weil auch das in ihm ist, dass er Fleisch ist und trotzdem ist er keiner, der sich vor mit demütigt und was wäre [erst], wenn er [aus] Feuer oder eine[r] beständige[n] Substanz wäre?« Aber in dieser Erklärung ist weder Vernunft noch leichte Ähnlichkeit [zum eigentlichen Sinn der Aussage]15. Und R. Abraham [ibn Ezra] erklärt, dass [d]er [Vers] besagt: Mein Geist wird nicht für immer im Menschen bleiben, wegen dieser Gewalt und weiters deswegen, dass der Mensch Fleisch ist und er wird bis zu einer [gewissen Lebens]Zeit kommen und [dann] weniger werden. Und siehe er [versteht den Ausdruck] wie: Auch dadurch, dass er Fleisch ist. Aber was ist die Notwendigkeit für diese Behauptung? Und es ist [doch] bekannt, denn sie sind Fleisch (Ps 78,39) und es wurde über sie der Tod verhängt, denn [es heißt:] Staub bist du und zum Staub wirst du zurückkehren (oben im Text 3,19).

Das Richtige in meinen Augen ist, dass er sagen wollte: Mein Geist soll nicht für immer im Menschen bleiben, wegen dem dass er – der Mensch – auch Fleisch ist, wie alles Fleisch, das sich auf der Erde bewegt, als Geflügel, als Vieh und als [Wild]Tier und sie sind nicht würdig, dass der Geist Gottes in ihm [dem Menschen] ist und das stimmt damit überein, dass gesagt wird: denn Gott hat den Menschen gerade/richtig gemacht (Koh 7,29), damit er sein könne wie die Engel des Dienstes, mit/durch eine/r Seele, die er ihm gegeben hat. Und siehe, er folgte dem Fleisch nach und durch die körperlichen Begierden ist er ähnlich wie das Vieh, es wird vernichtet (Ps 49,13). Und daher wird der Geist Gottes nicht weiter um ihn streiten (vgl. Gen 6,3), denn er ist körperlich, nicht göttlich. Aber: Er wird für sie [den Zeitraum] verlängern, wenn sie umkehren und siehe, das ist wie die Bedeutung [des vorher zitierten Verses]: Da gedachte er, dass sie Fleisch sind, ein Hauch der vergeht und nicht wiederkehrt. (Ps 78,39)

Kommentar: Auch für Nachmanides ist die Aussage von Gen 6,3 keinen Verkürzung der Lebenszeit und er lehnt sogar jegliche anthropologische Ableitung aus diesem Vers ab – es geht nur um die Chance der Umkehr vor dem Gericht.16 Dass Ramban die fleischliche Dimension des Menschen mit Hilfe von Koh 7,29 als Aspekt der guten Schöpfung des Menschen erklärt, ist eine präzise Herausarbeitung der Funktion dieses Verses im Koheletbuch17.

Und heute?

Das jadon wird zumeist im Sinn der LXX übersetzt. Nur die Lutherübersetzung folgt Gesenius, wenn sie ידון jadon von אדן adon = „Herr“ ableitet18 und das Verb mit walten im Sinn von herrschen übersetzt. Die Wortwurzel wäre dann ensprechend דון19. Ich meine, dass das geballte Votum der jüdischen Gelehrten für die Ableitung von דין ein starkes Argument ist, für ihre Auslegung zu streiten.

Ist die eingangs in allen deutschen Übersetzungen eingetragene „Lebenszeit“ – die ja nicht im Text steht – vertretbar? Ich meine nein, denn wenn es um Lebenszeiten geht (wie in den Toledot Adams in Gen 5), wird immer das Verb חיה – leben – verwendet:

וַיִּֽהְיוּ כָּל־יְמֵי אָדָם אֲשֶׁר־חַי תְּשַׁע מֵאוֹת שָׁנָה וּשְׁלֹשִׁים שָׁנָה וַיָּמֹֽת׃

Und es waren alle Tage Adams, die er lebte, neunhundert Jahre und dreißig Jahre und er starb. (Gen 5,5; MÜ)

Mit anderen Worten, diese Übersetzungen schieben dem hebräischen Text eine Eindeutigkeit zu, die er nicht hat. Das Wörtchen auch wegzulassen (darum dass er auch Fleisch ist) ist ebenfalls ein Kunstfehler. Am besten schlägt sich meiner Meinung nach bei diesem Vers von den modernen Übersetzugen noch die Elberfelder, sie liest (inklusive der Fußnoten):

Da sprach der HERR: Mein Geist soll nicht ewig im Menschen bleiben (so nach LXX: die Bedeutung des Wortes im Mas.T. ist nicht geklärt.), da er ja auch Fleisch ist (o. wegen ihrer Verfehlungen; er ist ja Fleisch). Seine Tage sollen 120 Jahre betragen. (Gen 6,3 Elberfelder)

Die Elberfelder kennt zwar die traditionelle Deutung nicht, macht dem Leser aber immerhin bewußt, dass der Vers alles andere als eindeutig ist.

Doch das letzte Wort soll ein jüdischer Gelehrter haben, nämlich Ludwig Philippson (1811– 1889):

Da sprach der Ewige: nicht unterliegen soll mein Geist in dem Menschen auf ewig, da dieser doch Fleisch nur ist – noch sollen seine Tage hundert und zwanzig Jahre sein.

Man lese dazu den Kommentar dieses Übersetzers auf der folgenden Seite seines Werkes und wird eine schöne Zusammenfassung meiner Ausführungen finden.

Fußnoten


  1. Zur Schreibweise mit Segol siehe die Übersetzung des Raschi-Kommentars durch R. Julius Dessauer, Budapest ²1905, S. 44 und weiter unten die Erklärung vom Ramban zur Stelle.
  2. Wörtlich: eine harte Sache
  3. Nach Gen 5,32 war Noah fünfhundert Jahre alt, als er Sem, Ham und Japhet zeugte. Nach Gen 7,6 war Noah sechshundert Jahre alt, als die Flut kam. Das spricht gegen die Auslegung der einhundertzwanzig Jahre als Umkehrfrist vor der Flut.
  4. Das „ist ein besonders (aber durchaus nicht ausschließlich) chronographisch interessierter Midrasch, der die Zeit von Adam bis zum Ende der Perserzeit umfaßt.“ (Günter Stemberger: Einleitung in Talmud und Midrasch⁸, München 1992 S. 319)
  5. Gemeint ist, dass ab Gen 6,5 die Erzählung über die Flut beginnt.
  6. Der Ausdruck mitten in seiner Scheide bedeutet so viel wie: tief in seinem Inneren. Entscheidend für diesen Schriftbeweis ist, dass der der Ausdruck „Geist“ (ruach) und „Scheide“ (nadan) hier zusammen in diesem Vers genannt werden und dass man eine sprachliche Verwandschaft zwischen jadon – dem zu erklärenden Ausdruck – und nadan – der Schwertscheide – sah.
  7. Die Wurzel von jadon ist דין – die von nadan aber נדן.
  8. Sein Stolz – si’o – von שִׂיא – wird von נשׂא abgeleitet – vgl. Gesenius S. 782
  9. Wörtlich: dass das Ajin abgelegt wird. Eine gute Erklärung dazu findet sich hier. Sinn der Aussage ist, dass mittlere Konsonanten entfallen können, wie im Fall von דין und eben hier שׂיא.
  10. We-jashov (וְיָשׁׂב) – „und es kehrt zurück“ kommt von der Wurzel שׁוב. Wie bei jadon wird mit einem cholem – einem langen o – vokalisiert. Also liegt es nahe, eine gleiche Wortstruktur in beiden Fällen anzunehmen.
  11. Diese Erklärung leitet jadon von dem Verb דין ab.
  12. In Ps 144,15 ist die Form שֶׁכָּכָה eine Zusammensetzung aus שֶׁ, der Kurzform von אֲשֶׁר und כָּכָה – was „dass etwas so ist“ bedeutet. Ibn Ezra interpretiert das Schin am Anfang des Wortes also als Partikel, nicht als Konsonante der Verbwurzel.
  13. Ich vermute, dass Ibn Ezra hier auf Gen 1,28 anspielt; vgl. auch H. Norman Strickman & Arthur M. Silver: Ibn Ezra’s commentary on the pentateuch – Genesis, 1988, S. 95 Fn. 10.
  14. Hanna Liss, Jüdische Bibelauslegung (Tübingen 2020) S. 112
  15. Wörtlich: ein Duft, ein Geschmack, vgl. Jastrow S. 1474
  16. Als Katholik denke ich in diesem Kontext natürlich auch an Mt 24,37-39/Lk 17,26-27.
  17. Vergleiche die instruktive Auslegung bei Ludger Schwienhorst-Schönberger: Kohelet (HThKAT, Freiburg 2004) S. 399 ff.
  18. Wilhelm Gesenius, Handwörterbuch über das AT (Heidelberg ¹⁷1962) S. 9 und 286
  19. Ebenda, S. 158

3 Gedanken zu „Seine Lebenszeit soll 120 Jahre betragen“

  1. Vielen Dank für die Erläuterungen zu diesem bisher weithin in seiner Bedeutung unterschätzten Text. Neben der Wortbedeutung spielen in das Textverständnis weitere Aspekte hinein, darunter juristischer und biologischer Art.
    Juristische Belange drehen sich um Bündnisse Gottes mit Adam, Noah, Abram und weitere – die zeitlichen Mustern folgen. Unter den biologischen Aspekten sei das der Energieversorgung aller Lebewesen herausgegriffen.

    Bernd Moosmann und Christian Behl (Universität Mainz) erläuterten Anfang 2008 in „Aging Cell“ (DOI 10.1111/j.1474-9726.2007.00349.x) Vergleiche an 248 Tier-Arten.
    Mitochondrien sind Organellen der Zelle, in der Nährstoffe verbrannt werden, wodurch alle Zellfunktionen betrieben werden. Im Mitochondrien-Erbgut steht die Häufigkeit des Auftretens der Aminosäure Cystein mit der Lebensdauer in Bezug. Cystein enthält eine Schwefelgruppe, die sehr anfällig für Sauerstoffradikale ist. Diese Aminosäure ist jedoch lebensnotwendig, da sie allen Eiweißen in allen Lebewesen ermöglicht, ihre komplexen Formen zu bewahren – aufgrund der Disulfid-Bindung. Die Festigkeit dieser Bindung im Molekularmaßstab übersteigt jene von Stahlseilen im Alltags-Maßstab. Die Oxidationsstabilität weniger, zentraler Proteine sei für eine hohe maximale Lebensdauer essentiell. Für alle 248 Arten füllte man eine Tabelle mit drei Spalten: Name der Tierart, Cystein-Gehalt und mögliche Lebensdauer. Ausgehend von den bekannten Lebensdauern der Tiere schloss man in einer Verhältnisgleichung auf die anhand des Cysteingehaltes bedingte Lebensdauer des Menschen. Ergebnis: 120 Jahre
    https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/18028257/

  2. Liebe Brüder und Schwestern in und von Gott , dem Herrn ,
    Da unsere Zeit in seinen Händen steht ist mir die ( theoretische )
    maximale Lebensfrist nicht so wichtig .
    Existieren wir doch bereits pränatal und postmortal in Ihm geborgen
    weiter. Mich würde viel mehr eine Begegnung z.B. mit Adam
    und Eva oder Noah beim himmlischen Vater interessieren .
    Dabei kann ich mir nur schwer vorstellen in welcher Sprache
    wir uns dort über die subjektiv erlebte Menschheitsentwicklung verständigen würden . Aber vielleicht ist das dann doch alles unerheblich .

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