»Jeder Mensch« – oder »ein Mensch«?

Und wieder einmal die Einheitsübersetzung: diesmal hat sie im Buch Kohelet zugeschlagen. Dieses auch als »Prediger«, »Prediger Salomo« oder »Ekklesiastes« bekannte Buch gehört sicher zu den großen Herausforderungen jeder biblischen Auslegung, weil es so quer zum Mainstream der sonstigen Theologie der biblischen Bücher zu stehen scheint. Um so wichtiger ist es, den Textsignalen des Buches zu folgen, die zu einer kohärenten Deutung führen können.

Hæbæl

Ein Schlüsselwort des Buches ist das hebräische hæbæl. Dieser Ausdruck, den die EÜ mit »Windhauch« wiedergibt, kommt insgesamt 38 mal vor. Umberto Eco hat die Herausforderungen, die dieser Ausdruck an einen Übersetzer stellt, beispielhaft behandelt (S. 214 -219). Unter diesem Leitmotiv äußert sich Kohelet skeptisch hinsichtlich eines Lebens nach dem Tod (Koh 3,19; 9,4b-6) und ruft den Menschen dazu auf, sein Leben angesichts des sicheren Endes zu genießen (Koh 5,18-19).

Dabei ist allerdings zweierlei zu beachten: das Buch arbeitet kunstvoll mit einander widersprechenden Zitaten, um die Unmöglichkeit einer simplen und einseitigen Lebensdeutung zu demonstrieren.: »Wissen ist besser als Macht, / aber das Wissen des Armen gilt nichts / und niemand will seine Worte hören (…) und Wissen ist besser als Waffen – / aber ein Einziger, der falsch entscheidet, / kann viele Werte zerstören.« (Koh 9,16+18) Der Widerspruch ist hier System.

Kål hā ādām

Und: der widersprüchliche Befund führt zu einer klaren Konsequenz. Insgesamt vier mal gebraucht das Buch den umfassenden Ausdruck kål hā ādām – »jeder Mensch« – um seine Fundamentalaussage über den Menschen zu verdeutlichen. Für den Leser ist klar, dass diese kål hā ādām Aussagen zusammen gesehen werden müssen, um das Buch richtig zu verstehen. Was sagt das Buch von jedem Menschen aus?

Jeder Mensch soll sein Glück genießen (Koh 3,13+5,18); jeder Mensch muss sterben (Koh 7,2); jeder Mensch soll Gott fürchten und seine Gebote beachten (Koh 12,13). Mit anderen Worten – aus dem extrem realistischen Befund des Buches zur menschlichen Situation folgt nicht der Nihilismus – sondern das Fazit: »Hast du all das gehört, so lautet der Schluss: Fürchte Gott und achte auf seine Gebote!« (Koh 12,13).

Diesen rote Faden des Buches hat die EÜ zerstört, in dem sie kål hā ādām in 3,13 und 5,18 sinnwidrig mit »ein Mensch« übersetzt. Aber vielleicht protestierten die Übersetzer dadurch gegen die Aufforderung Kohelets an jeden Menschen, das Leben zu genießen …

 

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