Der Kreuzträger auf dem Berg Morija

Auf den ersten Blick hat man es hier mit einer klassischen christlichen Auslegung von Gen 22,6 zu tun – der zweite Blick bringt überraschendes zu Tage.

Der Vers lautet im masoretischen Text:

וַיִּקַּח אַבְרָהָם אֶת־עֲצֵי הָעֹלָה וַיָּשֶׂם עַל־יִצְחָק בְּנֹו וַיִּקַּח בְּיָדֹו אֶת־הָאֵשׁ וְאֶת־הַֽמַּאֲכֶלֶת וַיֵּלְכוּ שְׁנֵיהֶם יַחְדָּֽו׃

Und Abraham nahm die Hölzer des Brandopfers und legte sie auf Isaak, seinen Sohn. Und er nahm das Feuer in seine Hand und das Messer. Und sie gingen, sie beide, miteinander. (MÜ)

Origenes

In seinen Predigten über die Genesis kommt Origenes auf diese Stelle zu sprechen, ich zitiere hier die lateinische Übersetzung Rufins:

Post haec »accepit« inquit »Abraham ligna ad holocaustum, et superposuit ea Isaac filio suo et accepit ignem in manibus suis et gladium, et abierunt simul«. Quod ipse sibi >ligna ad holocaustum< portat Isaac, illa figura est, quod et Christus >ipse sibi baiulavit crucem<, et tamen portare >ligna ad holocaustum< sacerdotis officium est. Fit ergo ipse et hostia et sacerdos. (In Genes. Homilia VIII, 6; GCS XXIX S. 61)

»Und danach heißt es: Abraham nahm die Hölzer für das Brandopfer und legte sie seinem Sohn Isaak auf und er nahm das Feuer in seine Hände und das Schwert, und sie gingen zusammen fort. Dass Isaak selbst ‚die Hölzer für das Brandopfer‘ trägt, ist ein Typos, weil auch Christus ’selbst sein Kreuz auf der Achsel trug‘ (vgl. Joh 19,17), aber ‚Hölzer für das Brandopfer zu tragen‘ ist sogar die Aufgabe des Priesters (vgl. Lev 1,7 und 6,5). Er wurde also sowohl zur Opfergabe als auch zum Priester.« (MÜ)

Midrasch Bereschit Rabba

Ich war sehr erstaunt, als ich den ersten Teil dieses Auslegungsmodells in einem rabbinischen Midrasch wiederfand, ich zitiere ihn nach der Ausgabe von Theodor/Albeck 1:

ויקח אברהם את עצי העולה ױשם על יצחק בנו כזה שטוען צלובו בכתפו׃

Und Abraham nahm die Hölzer des Brandopfers und legte sie auf Isaak, seinen Sohn (Gen 22,6). Das ist, wie wenn ihm sein Kreuz 2 auf seine Schulter gelegt wurde. (MBR LVI,3; MÜ)

Targum Onkelos

Die soteriologische Potenz der Akeda in der jüdischen Auslegungstradition ist ja belegbar. Das Targum Onkelos unterstreicht zu Gen 22,14 die priesterliche Dimension des Tuns Abrahams:

ופלח וצלי אברהם תמן באתרא ההוא, אמר קודם ה‘ הכא יהון פלחין דריא, בכין יתאמר ביומא הדין, בטורא הדין אברהם קודם ה‘ פלח

»Und Abraham diente und betete dort an diesem Ort, er sprach: vor dem HERRN werden hier Generationen dienen, dann wird man an diesem Tag sagen: auf diesem Berg hat Abraham vor dem Herrn gedient.« (MÜ)

Targum Pseudo-Jonathan

Die Bedeutung dessen, was Abraham und Isaak auf dem Berg Morija getan haben, hebt das Targum Pseudo-Jonathan zu Gen 22,14 hervor:


וְאוֹדִי וְצַלִי אַבְרָהָם תַּמָן בְּאַתְרָא הַהוּא וְאָמַר בְּבָעוּ בְּרַחֲמִין מִן קֳדָמָךְ יְיָ גְלֵי קָדָמָךְ דְלָא הֲוָה בִּלְבָבִי עוּמְקָא וּפָנִיתִי לְמֶעֱבַד גִזְרָתָךְ בְּחֶדְוָא כְּדֵין כַּד יְהוֹן בְּנוֹי דְיִצְחָק בְּרִי עַלְיַין לְשַׁעַת אֲנִיקֵי תֶהֱוֵי מִידְכַּר לְהוֹם וְעָנֵי יַתְהוֹם וּפָרִיק יַתְהוֹם וַעֲתִידִין אִינוּן כָּל דָרַיָא קַיְימִין לְמֶהֱוֵי אָמְרִין בְּטַוְורָא הָדֵין כָּפַת אַבְרָהָם יַת יִצְחָק בְּרֵיהּ וְתַמָן אִתְגַלְיַת עִילוֹי שְׁכִינְתָּא דַיְיָ

»Und Abraham bekannte und betete dort an diesem Ort und er sprach: ich bete mit Liebe vor Dir, HERR. Es ist vor dir offenbar, dass in meinem Herzen kein Bedenken war und ich wünschte, deinen Befehl mit Freude zu erfüllen. Nun, wenn die Söhne Isaaks, meines Sohnes, in der Stunde der Leiden kommen, sollst du dich ihrer erinnern, ihnen antworten und sie erlösen. In der Zukunft sollen sie – alle Generationen – die erstehen werden, sagen können: auf diesem Berg hat Abraham Isaak, seinen Sohn gebunden, und dort offenbarte sich ihm die schechina des HERRN.« (MÜ)

Auslegungsversuch

Ich denke, dass die Rabbinen die christliche Auslegung von Gen 22,6 mit ihrer Isaak-Jesus-Typologie kannten. Sie hielten dagegen und durch ihre Auslegung fest, dass es nicht die Kreuzigung Jesu, sondern der Gehorsam von Abraham und Isaak war, der den zukünftigen Generationen die Befreiung bringen sollte.

Show 2 footnotes

  1. Theodor/Albeck Band II, S. 598
  2. צְלוּב ist nach Jastrow Galgen, Holzpfahl (gallows, stake); nach Michael Sokoloff: A Dictionary of Jewish Babylonian Aramaic bedeutet צלב »kreuzigen«. Wünsche übersetzt den Ausdruck ebenfalls als Kreuz, führt ihn allerdings in MBR LVI, 5 an.

2 Gedanken zu „Der Kreuzträger auf dem Berg Morija“

  1. Ich denke, GenR 56,3 sollte aktivisch übersetzt werden: „Und Abraham nahm die Hölzer des Brandopfers und legte sie auf Isaak, seinen Sohn“ (Gen 22,6) – (so dass dieser) wie einer (war), der sein Kreuz auf seiner Schulter trägt.

    Das verändert inhaltlich nicht viel, aber ich würde sagen, dass diese aktive Beschreibung des Isaak in der kurzen Midraschdeutung die Aktivität des Abraham im Bibelvers spiegelt. Wer war eigentlich wer und wer tat was? Die Komplementarität von Abraham und Isaak kommt in dieser syntaktisch unklar scheinenden Verknüpfung von Vers und Deutung zum Ausdruck. Oder sie wird sogar hinterfragt. Denn es bleibt ja die Geschichte einer Tötung, zumindest ist das das Thema.

    1. Danke für den Hinweis – ich hatte טוען als Partizip Passiv gelesen. Es bleibt auf jeden Fall für mich eine bemerkenswerte Stelle.

Schreibe einen Kommentar zu Susanne Plietzsch Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert