»Auge um Auge, Zahn um Zahn«

Heute las ich wieder in der Zeitung von dem »alttestamentlichen Auge um Auge, Zahn um Zahn« und es scheint ausgemacht zu sein, dass die hebräische Bibel hier einer barbarischen »Rechtspraxis« huldigt, die wir zum Glück hinter uns gelassen haben. Aber stimmt diese Auslegung so wirklich? Die entscheidenden Stellen finden sich in Ex 21 und Lev 24. Ich beginne mit der Levitikus-Stelle: »Wenn jemand einen Stammesgenossen verletzt, soll man ihm antun, was er getan hat: Bruch um Bruch, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Der Schaden, den er einem Menschen zugefügt hat, soll ihm zugefügt werden« (Lev 24,19-20 – Einheitsübersetzung)

Entscheidend ist der hebräische Ausdruck tachat, den die EÜ mit »um« übersetzt, also wie in schen tachat schen – was demnach »Zahn um Zahn« hieße. Zu beachten ist allerdings, dass tachat im Hebräischen die Bedeutung »unter«, »anstelle von« oder »Ersatz« hat. In der schon besprochenen Erzählung in Gen 22 opfert Abraham den Widder tachat bᵉno, »anstelle seines Sohnes« (Gen 22,13).

Dazu passt, dass der Kontext der Levitikus Stelle (Lev 24,18+21) von finanzieller Wiedergutmachung spricht. Niemand käme doch auf die Idee, den Vers Lev 24,18 »Wer ein Stück Vieh erschlägt, muss es ersetzen: nefesch tachat nefesch« so zu deuten: ein Mensch, der ein Tier mutwillig tötet, muss das mit seinem Leben bezahlen. Nein, muss er nicht, aber er muss Wiedergutmachung leisten, indem er den Schaden ersetzt. Auch die EÜ übersetzt daher in diesem Vers nicht »Leben um Leben«, sondern »Leben für Leben«.

Das gilt noch mehr für den Rahmen der Aussage in Ex 21,23 ff. Wenn man den Abschnitt im Zusammenhang liest, also ab Ex 21,18, dann wird deutlich, dass es auch hier nicht um Verstümmelung, sondern um finanzielle Wiedergutmachung geht. Zu beachten ist, dass Ex 21,22 ausdrücklich die Möglichkeit eines Schiedsgerichtes erwähnt, dass im Zweifelsfall die Höhe der Zahlung festlegt.

So ist diese Aussage der Tora in der jüdischen Auslegung verstanden worden. Es geht nicht um Handabhacken, Augenausreißen oder Knochenbrechen, sondern um die Festlegung eines angemessenen Schmerzensgeldes, das den Arbeitsausfall und die medizinische Versorgung des Verletzten gewährleistet. Daher kam diese Bestimmung bei Mord auch nicht zum tragen (Lev 24,21).

Christliche Leser sind gewohnt, diese Aussage der Tora im Kontext der Bergpredigt zu verstehen (Mt 5,38-42) – über die Auslegung dieser Stelle wird in diesem Blog noch zu reden sein. Vorab nur soviel: zu einer Zeit, in der die Verstümmelung von Menschen im »christlichen Abendland« noch weithin geübte Praxis war, ist aus der rabbinischen Rechtssprechung nichts vergleichbares bekannt.

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