Die Heilung eines Blinden und eines Gelähmten – durch Vespasian

Tacitus berichtet im vierten Buch seiner Historien von der Heilung eines Blinden und eines Gelähmten in Alexandria durch den römischen Kaiser Vespasian (9-79 n. Chr.). 1 Die Erzählung wird in verknappter Form auch in der Biografie des gleichen Kaisers durch Sueton wiedergegeben. Werfen diese Berichte ein erhellendes Licht auf neutestamentliche Texte?

Ich beginne hier mit der Darstellung des Tacitus 2 in den Historien. Sie erschienen wohl in den Jahren 105 – 110 nach Christus. Liebhaber der lateinischen Sprache seien auf die häufige prädikative Verwendung des Infinitivs (infinitivus historicus) verwiesen.

P. Cornelius Tacitus

Per eos mensis quibus Vespasianus Alexandriae statos aestivis flatibus dies et certa maris opperiebatur, multa miracula evenere, quis caelestis favor et quaedam in Vespasianum inclinatio numinum ostenderetur. e plebe Alexandrina quidam oculorum tabe notus genua eius advolvitur, remedium caecitatis exposcens gemitu, monitu Serapidis dei, quem dedita superstitionibus gens ante alios colit; precabaturque principem ut genas et oculorum orbis dignaretur respergere oris excremento. alius manum aeger eodem deo auctore ut pede ac vestigio Caesaris calcaretur orabat. Vespasianus primo inridere, aspernari; atque illis instantibus modo famam vanitatis metuere, modo obsecratione ipsorum et vocibus adulantium in spem induci: postremo aestimari a medicis iubet an talis caecitas ac debilitas ope humana superabiles forent. medici varie disserere: huic non exesam vim luminis et redituram si pellerentur obstantia; illi elapsos in pravum artus, si salubris vis adhibeatur, posse integrari. id fortasse cordi deis et divino ministerio principem electum; denique patrati remedii gloriam penes Caesarem, inriti ludibrium penes miseros fore. igitur Vespasianus cuncta fortunae suae patere ratus nec quicquam ultra incredibile, laeto ipse vultu, erecta quae adstabat multitudine, iussa exequitur. statim conversa ad usum manus, ac caeco reluxit dies. utrumque qui interfuere nunc quoque memorant, postquam nullum mendacio pretium.

»In den Monaten, in denen Vespasian in Alexandria bestimmte Tage mit sommerlichen Winden und ein sicheres Meer abwartete, ereigneten sich viele Wunder, durch die die Gunst des Himmels und eine Art von Zuneigung der göttlichen Mächte zu Vespasian sichtbar werde. Einer aus dem niederen Volk Alexandriens, der aufgrund der Erblindung der Augen bekannt war, fiel vor ihm auf die Knie, indem er unter Klagen ein Heilmittel von der Erblindung erflehte, er tat dies gemäß der Weisung des Gottes Serapis, den das Volk, das abergläubischen Bräuchen ergeben war, vor den anderen (Göttern) verehrt. Und er flehte den Prinzeps an, er möge gnädig seine Wangen und seine Augäpfel mit seinem Speichel besprengen. Ein anderer an der Hand Kranker bat auf Veranlassung desselben Gottes, dass er von der Fußsohle Caesars getreten werde. Vespasian lachte zuerst, er lehnte ab; auch als jene ihn mit Bitten bestürmten, fürchtete er bald das Gerede wegen eines Misserfolges, bald wurde er durch das Flehen der Seinen und die Stimmen der Schmeichler zur Hoffnung verlockt: schließlich forderte er von Ärzten eine Einschätzung, ob eine derartige Erblindung und Lähmung durch menschlichen Beistand überwindbar wären. Die Ärzte äußerten verschiedentlich: Diesem sei die Sehkraft nicht (völlig) zerstört worden und (sie) werde wiederkehren, wenn vertrieben worden sei, was (der Sehkraft) im Wege stehe; jenem seien die Glieder (nur) verrenkt worden, wenn eine heilbringende Kraft angewendet würde, könnten (sie) wieder eingerenkt werden. Das liege vielleicht den Göttern am Herzen und der Prinzeps sei zu einem göttlichen Dienst erwählt worden; schließlich werde beim Zustandebringen einer Heilung der Ruhm bei Caesar, der Hohn über die Erfolglosigkeit bei den Unglücklichen liegen. Darauf meinte Vespasian, dass seinem Glück alles offenstehe und nichts mehr unglaublich sei; mit heiterer Miene führte er vor der aufmerksam dabei­stehenden Volksmenge das aus, wozu er aufgefordert worden war. Auf der Stelle wurde die Hand wieder brauchbar und dem Blinden wurde der Tag wieder hell. An beides erinnern sich auch jetzt noch die, die dabei waren, da mit einer Lüge kein Lohn (mehr zu gewinnen ist).«
(Tacitus, Hist IV,81,1-3; MÜ)

Auch wenn der Gebrauch des Speichels bei der Heilung des Blinden in NT ebenfalls erwähnt wird (Mk 8,22-26; Joh 9,1-7), ist der Unterschied zu den Evangelien deutlich: die Zweifel eines Vespasian sind Jesus fremd, und die von Tacitus mittels der ärztlichen Stellungnahmen vermittelte Aussage, dass es sich nicht um eine wirkliche Blindheit oder eine echte Lähmung handle, finden sich weder bei Markus noch bei Johannes. Noch klarer wird es bei Sueton.

C.S. Tranquillus Suetonius

Sueton 3 scheint mir in seiner Biografie des vergöttlichten Vespasian – geschrieben wohl nach 114 n. Chr. – möglichwerweise von der Schilderung des Tacitus abhängig zu sein. Allerdings strafft er sie bedeutend und hebt ihren politischen Aspekt noch stärker hervor:

Auctoritas et quasi maiestas quaedam, ut scilicet inopinato et adhuc novo principi, deerat: haec quoque accessit. E plebe quidam luminibus orbatus, item alius debili crure sedentem pro tribunali pariter adierunt, orantes opem valitudini demonstratam a Serapide per quietem: restituturum oculos, si inspuisset; confirmaturum crus, si dignaretur calce contingere. Cum vix fides esset ullo modo rem successuram, ideoque ne experiri quidem auderet, extremo hortantibus amicis palam pro contione utrumque temptavit, nec eventus defuit. Per idem tempus Tegeae in Arcadia instinctu vaticinantium effossa sunt sacrato loco vasa operis antiqui, atque in iis assimilis Vespasiano imago.

»Ansehen und eine gewisse Hoheit fehlten (ihm) gewissermaßen, wie es sich bei einem unerwarteten und noch neuen Prinzeps versteht: auch dieses stellte sich ein. Aus dem Pöbel näherten sich gleichzeitig einer, der des Augenlichtes beraubt war, ebenso ein anderer mit einem gelähmten Bein, als er vorne auf der Richterbühne saß. Sie baten um Stärkung des körperlichen Befindens, wie von Serapis durch einen Traum genau angezeigt worden war: Die Augen werde er wiederherstellen, wenn er auf sie gespuckt hätte; das Bein werde er wieder kräftigen, wenn er es nicht unter seiner Würde hielt, es mit der Ferse zu berühren. Weil er kaum Vertrauen hatte, dass es auf irgendeine Weise gelingen werde, deshalb wagte er es nicht einmal, es zu versuchen; zuletzt, nachdem ihn Freunde aufgemuntert hatten, versuchte er beides öffentlich vor der Volksversammlung, und es gelang. Zu derselben Zeit wurden in Tegea in Arkadien auf Veranlassung von Weissagern an einem heiligen Ort Vasen in einer altertümlichen Ausführung ausgegraben und auf ihnen war ein Bild, das Vespasian ziemlich ähnlich war.«
(Sueton: Vesp 7,2f. MÜ)

Literarische Abhängigkeiten?

Sind zwischen Markus und Johannes auf der einen und Tacitus und Sueton auf der anderen Seite literarische Abhängigkeiten zu erwarten? Markus schreibt meiner Meinung nach um 70 (und nicht früher) – er kann daher unmöglich Tacitus gekannt haben, der vierzig Jahre nach ihm schreibt. Ob Johannes die Synoptiker verwendet hat, ist umstritten. Ich ordne die Abfassung des vierten Evangeliums um 90 ein. Damit ist eine literarische Abhängigkeit des Joh von Tacitus ebenfalls nicht möglich. Möglich scheint mir zu sein, dass Sueton Tacitus verwendet hat – auch wenn bei ihm ein gelähmtes Bein, bei Tacitus eine gelähmte Hand geheilt wird.

Haben die beiden römischen Historiker dann vielleicht die Evangelisten verwendet? Wer ihre Verachtung für das kennt, was wir heute Christentum nennen, wird das ebenso wenig annehmen können, wie überhaupt eine Kenntnis der Evangelien, die bei späteren gebildeten Heiden – etwa Kelsos – durchaus möglich und vielleicht sogar üblich war.

Trotzdem werden aus dem Speichelmotiv weitreichende Schlüsse gezogen – dazu demnächst mehr.

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  1. Alle Zeitangaben in diesem Artikel nach: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. DTB 1979
  2. Geboren um 55 n. Chr., das Todesjahr ist unbekannt.
  3. Geboren um 70 n. Chr., das Todesjahr ist unbekannt.

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