»Vater« als Anrede Gottes

Drei frühe Beispiele:

Gebet des Aias in der Ilias des Homer

(2. Hälfte des 8. Jh. v. Chr.?) 1

Ζεῦ πάτερ ἀλλὰ σὺ ῥῦσαι ὑπ‘ ἠέρος υἷας Ἀχαιῶν,
ποίησον δ‘ αἴθρην, δὸς δ‘ ὀφθαλμοῖσιν ἰδέσθαι·
ἐν δὲ φάει καὶ ὄλεσσον, ἐπεί νύ τοι εὔαδεν οὕτως.

»Zeus, Vater! Rette aus dem Nebel die Söhne der Achaier,
Schaffe Himmelshelle und gib, mit den Augen zu sehen!
Im Licht magst du uns dann auch vernichten, wenn es dir so lieb ist.«

(Ilias, XVII,645-647; Ü: Wolfgang Schadewaldt)

Archilochos

(ca. 680 – 630 v. Chr.)

ὦ Ζεῦ, πάτερ Ζεῦ, σὸν μὲν οὐρανοῦ κράτος,
σὺ δ᾽ ἔργ᾽ ἐπ᾽ ἀνθρώπων ὁρᾶις
λεωργὰ καὶ θεμιστά, σοὶ δὲ θηρίων
ὕβρις τε καὶ δίκη μέλει.

O Zeus, Vater Zeus, Dein ist fürwahr die Herrschaft des Himmels,
aber Du schaust auf die Werke der Menschen
die frevlerischen und die rechtmäßigen, denn Dir liegt
der Geschöpfe 2 Hybris, Dir auch [ihre] Gerechtigkeit am Herzen.

(Fragment 94 D/177W; MÜ)

Aus dem Propheten Jesaja

(5./4. Jh. v. Chr.) 3


כִּֽי־אַתָּ֣ה אָבִ֔ינוּ כִּ֤י אַבְרָהָם֙ לֹ֣א יְדָעָ֔נוּ וְיִשְׂרָאֵ֖ל לֹ֣א יַכִּירָ֑נוּ אַתָּ֤ה יְהוָה֙ אָבִ֔ינוּ גֹּאֲלֵ֥נוּ מֵֽעֹולָ֖ם שְׁמֶֽךָ׃

»Denn du bist unser Vater (āvinu), weil Abraham nichts von uns weiß und Israel sich nicht für uns interessiert. 4 Du bist der HERR, unser Vater (āvinu), unser Erlöser von Ewigkeit her ist dein Namen«. (Jes 63,16; MÜ)

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  1. Die zeitliche Einordnung ist schwierig. Der kleine Pauly verzichtet in seinem Artikel »Homeros« überhaupt auf Angaben zur Lebenszeit des Homer (II, 1201 ff.), die zeitliche Einordnung der Epen habe ich dagegen von ihm übernommen (S. 1204). Thomas Szlezák schließt seine Übersicht zur Frage der Datierung der Ilias mit den Worten: »Sicheres Wissen ist nicht zu erlangen«, er rechnet mit einer Zeit um 670 v. Chr. Siehe: Thomas A. Szlezák: Homer oder Die Geburt der abendländischen Dichtung, C.H. Beck Verlag München 2012, S. 43-47
  2. Das Fragment dürfte aus einer Fabel über einen Fuchs und einen Adler stammen; daher wäre streng genommen nicht »Geschöpfe«, sondern »Tiere« zu übersetzen. Im Sinn der Fabel habe ich mich für »Geschöpfe« entschieden. Vgl. Wolfgang Schadewaldt, Die frühgriechische Lyrik; Suhrkamp 32012, S. 118 ff.
  3. Mit Konrad Schmid glaube ich nicht an einen Tritojesaja und ordne diesen Teil des Buches in die Perserzeit ein. Vgl. Konrad Schmid, Literaturgeschichte des AT, WBG Darmstadt 2008, S. 164 f.
  4. Hif.נכר

2 Gedanken zu „»Vater« als Anrede Gottes“

  1. Nicht nur im Christentum, sondern auch im Judentum wirkt »Unser Vater« bis in den heutigen Tag hinein. Das wohl bekannteste und herausragendste Gebet der Hohen Feiertage ist das schon zu Zeiten des Rabbi Akiva bekannte Gebet »Awinu Malkenu«, ein aus zwei Bibelstellen zusammengezogenes Synonym für den unaussprechlichen Gottesnamen, entlehnt aus Isaiah 63,16 כי-אתה אבינו (»Denn du bist doch unser Vater«) resp. Isaiah 33,22 ה“ מלכנו (»der Herr ist unser König«).

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