Dem Text zur Hilfe kommen

Wie schützt man einen Text, zumal einen heiligen Text, vor einer verhängnisvollen Fehlauslegung? Eine Frage, die nicht erst in der Neuzeit diskutiert wird. Ein Kronzeuge dieser Diskussion ist Platon (ca. 427-347 v. Chr.). In seinem Dialog Phaidros lässt er Sokrates folgendes sagen:

Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Eben so auch die Schriften. Du könntest glauben sie sprächen als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so enthalten sie doch nur ein und dasselbe stets. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll, und zu wem nicht. Und wird sie beleidiget oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hülfe; denn selbst ist sie weder sich zu schützen noch zu helfen im Stande. (Phaidros, 275d-e; Ü: Schleiermacher)

Der Text selber ist also in gewisser Weise wehrlos gegen seine Fehldeutung, er braucht jemand, der ihm »zur Hilfe kommt«. 1 Ich denke, dass das in gewisser Weise auch für die Texte der Bibel gilt.

Hier noch der griechische Text des Zitats:
δεινὸν γάρ που, ὦ Φαῖδρε, τοῦτ᾽ ἔχει γραφή, καὶ ὡς ἀληθῶς ὅμοιον ζωγραφίᾳ. καὶ γὰρ τὰ ἐκείνης ἔκγονα ἕστηκε μὲν ὡς ζῶντα, ἐὰν δ᾽ ἀνέρῃ τι, σεμνῶς πάνυ σιγᾷ. ταὐτὸν δὲ καὶ οἱ λόγοι: δόξαις μὲν ἂν ὥς τι φρονοῦντας αὐτοὺς λέγειν, ἐὰν δέ τι ἔρῃ τῶν λεγομένων βουλόμενος μαθεῖν, ἕν τι σημαίνει μόνον ταὐτὸν ἀεί. ὅταν δὲ ἅπαξ γραφῇ, κυλινδεῖται μὲν πανταχοῦ πᾶς λόγος ὁμοίως παρὰ τοῖς ἐπαΐουσιν, ὡς δ᾽ αὕτως παρ᾽ οἷς οὐδὲν προσήκει, καὶ οὐκ ἐπίσταται λέγειν οἷς δεῖ γε καὶ μή. πλημμελούμενος δὲ καὶ οὐκ ἐν δίκῃ λοιδορηθεὶς τοῦ πατρὸς ἀεὶ δεῖται βοηθοῦ: αὐτὸς γὰρ οὔτ᾽ ἀμύνασθαι οὔτε βοηθῆσαι δυνατὸς αὑτῷ.
Quelle: Perseus.org

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  1. Eine eigehende Deutung dieser und anderer Platonstellen zum Thema hat Thomas A. Szlezák in seinem Werk »Platon lesen« vorgelegt.

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