Die Mitte des biblischen Textes – was die Form über den Inhalt aussagt

Masoretische Beobachtungen VIII

Bekanntlich ist die Einteilung des biblischen Textes in Kapitel und Verse eine relativ späte Erscheinung. Wie aber hat die Navigation in einem Text von rund 23 000 Versen in der Antike funktioniert? Die älteste vollständig erhaltene Abschrift der hebräischen Bibel gibt deutliche Hinweise. Entscheidend ist der gottesdienstliche Gebrauch der Bibel. Im jüdischen Gottesdienst wird bis heute zumeist innerhalb eines Jahres die ganze Tora gelesen. Der entsprechende Wochenabschnitt wird Parascha genannt. Sie bilden einen Referenzrahmen, innerhalb dessen man sich relativ rasch bewegen kann. Entsprechend kennt der Codex Leningradensis keine Kapitel, geschweige denn Verse, sondern Paraschot (Mehrzahl von Parascha). Und die werden deutlich gezeigt.

Parascha Acharei Mot CL
Parascha Acharei Mot CL

Das Bild zeigt den Beginn des Wochenabschnitts Acharei Mot in Lev 16,1. Er beginnt mit den Worten: wa jedabber Adonai æl moschæ acharei mot schenei benei acharon. Und der HERR sprach zu Moses nach dem Tod der beiden Söhne Aarons. Das kunstvolle Zeichen auf der rechten Seite signalisiert dem Leser/der Leserin den Beginn dieses Wochenabschnitts.

Die Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS) lässt die Zeichnung weg, druckt aber fett und vergrößert das in der Zeichnung erkennbare פרש ab, das Parascha bedeutet. Doch der Text beinhaltet noch mehr visuelle Informationen:

CL: Mitte der prophetischen Bücher
CL: Mitte der prophetischen Bücher

Auf diesem Bild sieht man eine Markierung, die besagt, dass hier – in Jes 17,2 – die genaue Mitte der Prophetenbücher erreicht ist. Der hebräische Text lautet: חצי הנביאיםchezi hanebi’im – die Hälfte der Propheten und signalisiert, dass ein Buchstabe in diesem Vers genau die Mitte der Prophetenbücher markiert (ohne zu sagen, welcher). 1 Hier übernimmt die BHS ebenfalls die Buchstaben, nicht aber die Zeichnung.

Aussagekraft der Schriftspalten

Ein weiteres, deutliches visuelles Signal ist die Spaltenanzahl im Text. In der Regel ist der Codex Leningradensis dreispaltig geschrieben. Eine Ausnahme stellen die poetischen Texte der hebräischen Bibel dar.

Das Lied des Mose zweite Seite
Das Lied des Mose zweite Seite

Ein erstes Beispiel dafür ist das Lied des Mose nach der Rettung am Schilfmeer in Ex 15. Hier springt der Text auf einspaltig um, ja sogar die große Masora illustriert das Geschehen. Das konnte die BHS so nicht abbilden, ändert aber jedenfalls auch das Schriftbild des Textes. Weitere Beispiele für solche Hervorhebungen von poetischen Texten sind:

  • das Lied des Mose in Dtn 32 ist zweispaltig gesetzt
  •  das Deborahlied in Ri 5 ist einspaltig
  • das Lied Davids in 2 Sam 22: einspaltig
  • der gesamte Psalter: zweispaltig
  • Hiob: zweispaltig
  • Sprichwörter: zweispaltig

Dieses visuelle Signal hat auch inhaltliche Relevanz: solche poetischen Texte sind anders zu lesen und auszulegen, als andere.

Nachweise

Falls Sie diese Befunde am Codex Leningradensis (CL) nachvollziehen wollen, hier die Seitenangaben der Datei und die dazu gehörenden Seitenangaben der BHS.

  • Lied am Schilfmeer: CL 84-85/BHS 110-111
  • Lied des Mose Dtn 32: CL 241-242/BHS 345 ff.
  • Deborahlied: CL 281-283/BHS 406 ff.
  • Davids Lied: CL 368-369/BHS 548 ff.

Die weiteren Bücherangaben finden Sie hier.

Fortsetzung

Show 1 footnote

  1. Zu beachten ist, dass die hebräische Bibel unter Propheten nicht das gleiche versteht, wie der christliche Kanon. Die prophetischen Bücher beginnen im Judentum mit Josua und beinhalten nicht das Buch Daniel.

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