Projektive Auslegung II

Ein besonders gutes Beispiel einer projektiven und zugleich problematischen Bibelauslegung ist die Gestalt des Apostel Paulus im Neuen Testament. Die Bewusstwerdung dieser »Übertragung« hat in der Exegese zu einer »neuen Paulusperspektive« geführt. Worum geht es dabei? Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, daher steige ich mit Caravaggios »Bekehrung des Paulus« ein.

Bemerkenswert an diesem Bild ist, dass biblisch gesehen in keinem der drei Texte aus der Apostelgeschichte, die diese Szene schildern, von einem Pferd die Rede ist (vgl. Apg 9,1-22; 22,1-22; 26,1-32). Das Tier entstammt der Phantasie des Malers.

Keine Bekehrung, sondern eine Berufung

Weitaus schwerwiegender ist der Befund, dass Paulus selbst in diesem Zusammenhang niemals von einer Bekehrung spricht, sondern von seiner Berufung. Auch wenn meine Kirche bis heute am 29. Juni das »Fest der Bekehrung des Apostels« Paulus feiert (gemeinsam mit den evangelischen, anglikanischen und orthodoxen Christen) ist diese Bezeichnung sachlich genauso falsch, wie der Ausdruck »vom Saulus zum Paulus werden« (siehe dazu Apg 13,9: »Saulus, der auch Paulus heißt …«).

Paulus hat sich nicht vom Judentum zum Christentum bekehrt – aus zwei Gründen: Erstens betrachtete er sich bis an sein Lebensende als Jude (2 Kor 11,22; Phil 3,5; Röm 11,1), und zweitens ist »Christentum« kein biblischer Terminus. Das Neue Testament kennt diesen Ausdruck nicht. »Christianer« – das ist die wörtliche Übersetzung des griechischen Wortes christianós – also »Christen« wurden die Anhänger des neuen Weges zunächst von Außenstehenden genannt (Apg 11,26; 26,28) – erst in einem der jüngsten Texte des NT wird der Ausdruck zur Selbstbezeichnung (1 Petr 4,16). Das griechische Wort für Christentum – Christianismós – ist erstmals bei Ignatius von Antiochien (IRö 3,3) und im Martyrium des Polykarp (MPol 10,1) im 2. Jhdt. bezeugt.

Fazit: 

Saulus, der auch Paulus heißt, erfuhr vor Damaskus keine Bekehrung, sondern eine Berufung. Er stürzte nicht vom Pferd und er bleib Jude – allerdings wandelte er sich nach Damaskus von einem Pharisäer zu einem Anhänger des Messias Jesus aus Nazaret. Mit weltgeschichtlichen Folgen bis heute.

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