Projektive Auslegung I

In das kollektive Gedächtnis der Bibelleser sind eine Reihe von Vorstellungen gleichsam eingebrannt, die erstaunlicherweise oft keinen Anhalt am Text haben. In einer lockeren Serie möchte ich einige Beobachtungen dazu posten – und beginne mit einem bereits mehrfach besprochenen Thema: Kain und Abel.   In Gen 4,3-4 liest man (Einheitsübersetzung): »Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer,  aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß und sein Blick senkte sich.« Der Ausgang der Erzählung ist bekannt: der Brudermord.

Warum?

Ausleger aller Zeiten hat vor allem die Frage interessiert: warum sieht Gott auf das Opfer Abels – aber nicht auf Kain und sein Opfer? Der Text selbst gibt dazu keine Antwort. Daher musste eher projektiv gearbeitet werden. Grundsätzlich gab und gibt es dabei drei mögliche Erklärungen: Entweder mit Kain stimmte etwas nicht – oder mit seinem Opfer – oder mit beiden. Alle drei Modelle finden sich in der Tradition.

Illustration durch Lucas Cranach d.Ä. in der Lutherbibel von 1541

Erklärung 1: Mit Kain stimmte etwas nicht

Dass Kain vom Bösen stammte (1 Joh 3,11-12) ist eine sehr alte Vorstellung, die ich schon ausführlicher besprochen habe. Dementsprechend musste Abel unschuldig gewesen sein (Mt 23,35; Heb 11,4+12,24). Daher konnte Gott das Opfer des älteren Bruders nicht annehmen. Doch woran erkannte Kain, dass er und sein Opfer nicht willkommen waren? Die älteste Deutung stammt aus der Übersetzung des Theodotion, der den Ausdruck wayyisha‘ (=er blickte) mit er verbrannte [das Opfer Abels] übersetzte – im Hintergrund stand wohl die Erzählung von Elijas Opfer auf dem Berg Karmel (1 Kön 18).

Augustinus kannte diese Deutung, denn er schreibt dazu: »Denn als Gott die Opfer der beiden verschieden wertete und das eine wohlgefällig, das andere missfällig ansah, was man ohne Zweifel an einem in die Augen fallenden Zeichen erkennen konnte, und zwar deshalb, weil die Werke des einen Bruders böse, die des anderen aber gut waren, wurde Kain sehr verstimmt und sein Angesicht entstellte sich.«  (Vom Gottesstaat, XV,7) (Dieses in die Augen fallende Zeichen hat Cranach in seiner Illustration deutlich zum Ausdruck gebracht!)

Erklärung 2: Mit Kains Opfer stimmte etwas nicht

Die Septuaginta spricht in Gen 4,7 davon, dass Kains Opfer nicht richtig geteilt worden sei…. Augustinus, der die Lesart der LXX bevorzugte, führt dazu aus: »Teilung heißt hier also Unterscheidung, und der Fehler liegt daran, dass man opfert, wo man nicht darf, oder etwas opfert, das man nicht hier, sondern nur anderswo opfern darf, oder opfert, wann man nicht darf, oder etwas opfert, das man nicht jetzt, sondern nur zu anderer Zeit opfern dürfte, oder etwas opfert, das man überhaupt nie und nirgends opfern dürfte, oder daran, dass der Mensch etwas für sich behält, was besser ist als das, was er von derselben Art Gott opfert, oder endlich daran, dass ein Unreiner oder sonst einer, der nicht dahin gehört, am Opfermahl Anteil erhält. Was nun von alledem es war, wodurch Kain Gottes Missfallen erregte, ist nicht leicht zu ermitteln.« (Vom Gottesstaat, XV,7)

Andere Ausleger waren da weniger vorsichtig und sahen einen Unterschied in der Qualität der Opfer. Ephräm der Syrer († 373 n. Chr.) meint in seinem Genesis Kommentar: »Abel wählte und brachte als Opfer von den erstgeborenen und den fettesten [Tieren], aber Kain brachte die Früchte, die er zu dieser Zeit fand. Er [Gott] entschied, sein Opfer nicht von ihm anzunehmen, um ihn zu lehren, wie er opfern müsste. Denn Kain besaß Stiere und Kälber und er hatte keinen Mangel an anderen Tieren oder Geflügel, das er hätte opfern können.« (Genesis Kommentar 3,2).

Erklärung 3: Mit Kain und seinem Opfer stimmte etwas nicht

Eine Zusammenfassung beider Positionen findet sich bei Irenäus von Lyon († 202 n. Chr.):  »Schon im Anfang schaute der Herr auf Abels Gaben, da er sie in Einfalt und Gerechtigkeit darbrachte; auf Kains Opfer aber schaute er nicht, weil sein Herz durch Neid und Bosheit gegen den Bruder gespalten war. Diese verborgenen Fehler tadelte der Herr, indem er zu ihm sprach: „Hast du nicht, wenn du recht opfertest, aber unrecht teiltest, gesündigt? Laß davon ab!“ Denn durch Opfer wird Gott nicht versöhnt.« (Gegen die Häresien, IV, 18)

Fazit:

Um die offenen Fragen zu klären, die der Text stellt, arbeiten die Ausleger mit zwei Techniken: sie deuten die dunkle Bibelstelle von anderen Stellen her – oder sie gebrauchen ihre kreative Phantasie. Das Ergebnis ist so überzeugend, dass es in das kollektive Bewusstsein der Leser übergeht.

Zum Abschluss eine weitere Illustration zu diesem Artikel: dieser Ausschnitt aus einem Altarbild von Meister Bertram von Minden (um 1380) zeigt sowohl das Opfer der Brüder, als auch den Brudermord. Interessanterweise verwendet Kain zur Ermordung seines Bruders den Kiefer eines Tieres – wohl eine Anspielung auf Ri 15,15-17.

Meine Hauptquelle zu diesem Artikel: wieder einmal James L. Kugel

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