Der Vorhang im Tempel I

Biblisch Interessierte haben sicherlich des öfteren in den neutestamentlichen Passionserzählungen gehört oder gelesen, dass im Moment des Todes Jesu der Vorhang im Tempel mitten entzweiriss. Der Sinn dieses Details ist aber eher weniger bekannt.

Ohne die Kenntnis der Feier des Jom Kippur – des großen Versöhnungstages – wie sie in Lev 16 geschildert wird, bleibt die theologische Relevanz des zerrissenen Vorhangs unverständlich. So habe ich es eigentlich in den letzten Jahren immer vorgetragen.

Martin Ebner

In neuerer Zeit hat Martin Ebner für das Markusevangelium eine alternative Deutung vorgeschlagen. Er interpretiert die nach seiner Meinung mit dem aufgerissenen Himmel der Tauferzählung (Mk 1,10) gekoppelte Erwähnung des zerrissenen Vorhangs (Mk 15,38) als »Himmelsspaltung« – und beruft sich dabei auf Flavius Josephus, der den äußeren Tempelvorhang als Abbild des Kosmos geschildert habe. Eben diesen von den Römern erbeuteten Vorhang habe der Evangelist beim Triumphzug des Tiberius in Rom gesehen – und dieser Anblick habe ihn zu der Schilderung in seiner Passion veranlasst. 1 Ich möchte hier begründen, warum mich diese Deutung nicht überzeugt.

Flavius Josephus

In seinem Werk »Der jüdische Krieg« berichtet Josephus von Türen, die den inneren Bereich des Tempels abschlossen, und fährt dann fort:

»Vor diesen Flügelthüren befand sich ein Vorhang von gleicher Größe, eine aus Hyacinth, Byssus, Scharlach und Purpur buntgewirkte, sogenannte Babylonische Decke von wunderbarer Arbeit, deren Farbenmischung nicht ohne Bedachtnahme auf die Bedeutung des betreffenden Stoffes geschehen war; sie sollte damit gleichsam ein Bild des Universums bieten.

Mit dem Scharlach sollte der Vorhang das Feuer, mit dem Byssus die Erde, mit der Hyacinthfarbe die Luft und mit dem Purpur das Meer andeuten, da zwei dieser Stoffe schon mit ihrer Farbenähnlichkeit, der Byssus und der Purpur aber durch ihre Herkunft an die ihnen entsprechenden Elemente gemahnen, indem den Byssus die Erde, den Purpur aber das Meer hervorbringt.

Eingewirkt war in diese Decke eine Darstellung des ganzen Himmelsgewölbes, mit Ausnahme der Sternbilder des Thierkreises«. (De bello judaico V,112-114; Ü: Philipp Kohout)

Josephus orientiert sich in seiner Darstellung an Ex 26. Dort wird ein äußerer Vorhang am Eingang (Ex 26,36) und ein innerer Vorhang vor dem Allerheiligsten mit der Bundeslade (Ex 26,31-34) 2 genannt. Nach dem Riss des äußeren Vorhangs steht der Betrachter – vor den verschlossenen Türen des Heiligtums!

Die ebnersche Deutung wird das nicht stören – hier geht es ja um die angebliche kosmische Symbolik. Ich will mehrere »Gedächtnisspuren« anführen, die ebenfalls sehr alt sind und diese Deutung meiner Meinung nach fragwürdig machen.

Neues Testament

Wenn der innere Vorhang des Tempels zeriss, stand das Allerheiligste offen, in dem im Ersten Tempel die Bundeslade aufbewahrt wurde. Paulus identifiziert Jesus in einem Bildwort mit der Bundeslade (Röm 3,25), 3 Johannes spielt in seinem Prolog ebenfalls darauf an, wenn er sagt, der menschgewordene Logos habe unter uns »gezeltet«. 4

Diese innerneutestamentlichen Bezüge nennt Ebner nicht – was auch bei seiner Deutung der Auferweckung Jesu im Sinne einer Apotheose (wie bei Herakles!) auffällt. 5 Dass der Engel im leeren Grab den Frauen das Glaubensbekenntnis aus 1 Kor 15 erzählt, 6 bleibt da unbeachtet.

Diese völlige Trennung zentraler Aussagen des Markus zu Tod und Auferweckung Jesu von ihrem jüdischen Hintergrund macht mich stutzig. Und sie bleibt ja wahrlich nicht folgenlos: Schließlich haben sich Matthäus und Lukas auf die Markuspassion gestützt. 7

Jerusalemer Talmud

Im älteren palästinensischen Talmud diskutieren die Rabbinen u.a. wie der innere und der äußere Vorhang ausgesehen haben. Ausgangspunkt sind die Angaben aus Ex 26, auf die sich auch Josephus gestützt hat. Beide Vorhänge wurden durch unterschiedliche Nähtechniken gefertigt, aus der jeweils angewandten Technik heraus wird dann gedeutet, was auf das Aussehen des jeweiligen Vorhangs geschlossen werden kann:

Der Jerusalemer Talmud zu den Vorhängen im Tempel
Der Jerusalemer Talmud zu den Vorhängen im Tempel

»Bunt gewirkt gemacht«: 8 (das bedeutet) ein Gesicht 9 (auf dem Vorhang).
»Eingewoben gemacht«: 10 (das bedeutet) zwei Gesichter (auf dem Vorhang).

Rabbi Jehuda und Rabbi Nehemia: Einer sagte: »„Bunt gewirkt“ gemacht: (das bedeutet) ein Löwe auf der einen Seite und ein Löwe auf der anderen Seite. „Eingewoben gemacht“: (das bedeutet) ein Löwe auf der einen Seite und leer auf der anderen Seite.« Und der andere sagte: »“Bunt gewirkt gemacht“: (das bedeutet) ein Löwe auf der einen Seite und leer auf der anderen Seite; „Eingewoben gemacht“: (das bedeutet) ein Löwen auf der einen Seite und ein Adler auf der anderen Seite.« (MÜ pShek 8,2) 11

Sollte diese alte Tradition mit den Symbolbildern von Löwe und Adler stimmen, wäre die kosmische Allegorese des Josephus wohl hinfällig. Viel spannender ist aber noch, was Mischna und Talmud über diejenigen sagen, die diese Vorhänge angefertigt haben. Dazu demnächst mehr.

Lucas Cranach: Teppich im Tempel - Illustration aus der Lutherbibel zu Ex 26
Lucas Cranach: Teppich im Tempel – Illustration aus der Lutherbibel zu Ex 26

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  1. Vgl. Martin Ebner/Stefan Schreiber (Hg.): Einleitung in das Neue Testament; Kohlhammer Verlag, 2. Auflage 2013 S. 173
  2. Vgl. Lev 16,2: Hebr 9,3 ff.
  3. Diese Identifizierung ist in der EÜ nicht nachvollziehbar!
  4. Das ist eine Anspielung auf das Zelt der Begegnung, in dessen Inneren die Bundeslade aufbewahrt wurde (Ex 40)
  5. s. Einleitung S. 179 f. a.a.o.
  6. vgl. Mk 16,6-7 und 1 Kor 15,3-5
  7. So fehlt bei Johannes der Hinweis auf den zerrissenen Vorhang!
  8. Ex 26,36
  9. Nach Jastrow ist das Wort parzof (פַּרְצוֹף) vom gr. prosōpon (πρόσωπον) abgeleitet. Vgl. Samuel Krauss: Griechische und lateinische Lehnwörter im Talmud, Midrasch und Targum; S. 10 und S. 216
  10. Ex 26,31
  11. מעשה רוקם פרצוף אחד מעשה חושב שני פרצופות רבי יהודה ורבי נחמיה חד אמר מעשה רוקם ארי מכאן וארי מכאן מעשה חושב ארי מכאן וחלק מכאן וחרנה אמר מעשה רוקם ארי מכאן וחלק מכאן מעשה חושב ארי מכאן ונשר מכאן׃

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